Fotografia autora(Demokrates kommentiert: der nachstehende Text soll am 13. Juni 2016 bei Attac Braunschweig vorgetragen werden, da aber im Leben alles passieren kann, erscheint er vorher hier)

Was ist eigentlich mit dem heutigen Polen geschehen? Was hat sich so plötzlich mit diesem angeblich demokratisch gewordenen Land getan, das – gemäß der westlichen, aber auch der polnischen Erfolgspropaganda der letzten 26 Jahre - „eine grüne Insel des Wohlstands in Mitteleuropa” bildete? Ist es wirklich so, dass die polnische Demokratie unerwartet in Gefahr geraten ist?

Ja, es ist ohne Zweifel passiert. Obwohl … eine so gestellte Frage irreführend ist. Sie ist irreführend aus zweierlei Gründen.

Erstens: Der bisherige polnische Parlamentarismus war von dem Modell einer reellen Demokratie weit mehr entfernt als die westeuropäische bürgerliche Demokratie in der jetzigen neoliberalisierten Variante. Es war ja ein politisches System typisch für eine Peripherie, um auf Wallersteins Unterscheidung zwischen Peripherie und Metropole anzuspielen. Es war ein System, das beispielsweise total gleichgültig gegenüber solchen Missständen war wie die fast fiktive Selbstverwaltung der Gemeinden, wie die stockende Entwicklung (oder eher eine Unterentwicklung) der Bürgergesellschaft, und vor allem - wie die alarmierend niedrige Wahlbeteiligung bei Wahlen aller Art.

Und zweitens: Die Gefährdung dieses Demokratiemodells durch ein eindeutig undemokratisches und autoritäres Modell des Machtsystems kam nicht plötzlich oder unerwartet. Die wachsende Enttäuschung von jenem als demokratisch geltenden System, das die Bürgerplattform praktizierte, war seit Jahren deutlich bemerkbar. Es gab für diese Enttäuschung auch verständliche wirtschaftliche und soziale Gründe. Die wachsende Popularität der jetzt regierenden nationalkonservativen, eindeutig autoritären Partei Recht und Gerechtigkeit (man beachtet den Parteinamen!!!) war ebenso seit langem zu erwarten, und seit langem gab es bezüglich dieser Prognose kaum Meinungsunterschiede in Polen. Auch die Gründe dieser Popularität von Recht und Gerechtigkeit waren klar und eindeutig: außer gewisser pro-sozialer Deklarationen dieser Partei gilt die autoritäre Lebenseinstellung einer Bevölkerung, die unter dem Einfluss eines hierarchischen und antidemokratischen Katholizismus steht. Es wird hier damit vor allem eine gesellschaftliche Passivität gemeint, gekoppelt mit Sehnsucht nach starker Führung, einem Phänomen, das bekanntlich in Zeiten wachsender Frustrationen an Bedeutung gewinnt.

Was man nicht unbedingt voraussehen konnte, waren zwei Ereignisse. Das erste besteht in einer nicht-solidarischen Wahlstrategie der polnischen Linksparteien, die maßgeblich zu jenem Großen Sieg der konservativ-nationalen Partei Gesetz und Gerechtigkeit verholfen hat und dafür verantwortlich ist, dass sich jetzt im polnischen Parlament keine linke Partei befindet. Die zweite Überraschung war das Angebot der Partei Recht und Gerechtigkeit, jede Familie für ein zweites Kind mit der Summe von circa 125 Euro (500 Zloty) zu unterstützen, was diese Partei auch bei den Wahlen sehr gestärkt hat. Es handelt sich hier übrigens um eine Summe, die mancher nicht überdurchschnittlich wohlhabender Pole für eine sehr geringe hält: für 500 Zloty kann man, beispielsweise, höchstens eine halbe Miete für eine Ein-Zimmer-Wohnung in einer Stadt bezahlen. Die riesengroße Begeisterung, die darauf folgte, zeigt aber, wie groß die materiellen Unterschiede zwischen Arm und Wohlhabend in Polen sind.

Wie man aus dem bereits Gesagten ersehen kann, haben wir in diesem polnischen Regierungswechsel mit etwas mehr zu tun, als nur mit einem historischen Einschnitt. Bemerkenswert ist ja auch diese hier angedeutete kontinuierliche Weiterentwicklung des Bisherigen. Gemeint ist hier damit die Fortsetzung der gesellschaftlichen Bedingungen für nicht demokratische Machtsysteme. Und wichtig ist das alles selbstverständlich auch deswegen, weil man sehr gerne wissen oder ahnen möchte, was jetzt und später kommt, also auch in einer weiteren Zukunft. Manches lässt sich schon aus dem erahnen, worüber die westlichen Medien schon wiederholt berichtet haben. Von besonderer Bedeutung für jene weitere Zukunft scheinen folgende gut bekannte Ereignisse zu sein.

 

Die wilden Angriffe der neuen Regierung gegen das Verfassungsgericht werden zurecht als besonders gefährlich eingeschätzt. Es handelt sich hier, wie Sie wissen, um zwei folgenreiche Vorhaben der Partei Recht und Gerechtigkeit. Das eine besteht darin, dass sie das Gericht mit ihren eigenen ihr wohlgesonnenen Richtern zu besetzen versucht. Das andere, nicht weniger gefährlich, besteht in dem Versuch, die Arbeit des Gerichts zu verlangsamen oder, besser gesagt, zu lähmen. Und zwar für den Fall, dass seine Richter - trotz allem Gehorsam - dazu neigen sollten, ein Gesetz, das für die Partei nützlich und wichtig wäre, als verfassungswidrig anzuerkennen. Wie in Österreich ab dem Jahre 1933, wird für diese Verlangsamung oder Lähmung des Gerichts ein neues Gesetz eingeführt: das Verfassungsgericht könne nur unter der Bedingung beschlussfähig sein, wenn an einer Sitzung nicht weniger als zwei Drittel der Richter teilnehmen. Was ja ziemlich selten vorkommt, fügen die Kritiker hinzu. Der Zweck dieser und noch einiger anderer ähnlich ausgerichteter Maßnahmen ist nichts anderes, als kontrollfrei neue Gesetze zu erlassen. Auch das Vorhaben, ein neues Grundgesetz ins Leben zu rufen, hat kein anderes Ziel als dieses.

Da es, wie gesagt, breit bekannte Fakten sind, müssen sie hier nicht genauer dargestellt werden. Die angeführten Beispiele sollen uns lediglich oder hauptsächlich die Möglichkeit vor Augen führen, dass die jetzige antidemokratische Wende noch sehr lange von sich hören lässt. Solche Gesetze, wie die gerade erwähnten, rückgängig zu machen, wird ja sehr viel Arbeit und Zeit kosten. Noch schwieriger wird die Aufgabe sein, die neuen Regelungen zur Kontrolle von Internet und Telefongesprächen sowie die zur Begrenzung der Presse- und Meinungsfreiheit ganz und spurlos aus der Welt zu schaffen. Denn welche Regierung ist schon daran interessiert, auf einen wesentlichen Teil ihrer Macht ohne Kampf zu verzichten!

Viel weniger Auskunft bekommt man in Westeuropa zu den schon älteren antidemokratischen Faktoren, obwohl auch sie höchstwahrscheinlich noch sehr lange wirken werden. Es sorgt für diese “Diskretion” unter anderem die politische Korrektheit, die es nicht erlaubt, ethisch-politische Mankos einer benachbarten Bevölkerung in hellem Licht darzustellen. Aber auch die wirtschaftlich-politische Zensur der großen Medien spielt hier eine Rolle: mit ihrer Ideologie harmoniert sehr gut das Bild Polens als jener Grünen Insel des kapitalistischen Wohlstands in Ost- und Mitteleuropa, und so wird meistens - beispielsweise im deutschen Fernsehen – über Polen berichtet; ganz anders steht es mit Schilderungen extremer Armut, in der in Polen zwei Millionen Menschen leben, unter 466 Zloty (ca 116 Euro) monatlich. Dies harmoniert mit der obligatorisch positiven Auslegung der wirtschaftlich-politischen Transformation Polens nach 1989 überhaupt nicht. Der Zerfall der ehemals großen polnischen Industrie, die im Laufe dieser Transformation durch Unteraufträge gegenüber westlichen Firmen ersetzt wurde, ist ebenso ein heikles Thema, das man am liebsten meidet. Schlecht thematisieren lässt sich auch die leicht zu machende Beobachtung, dass viele frustrierte Polen die antidemokratische Partei Recht und Gerechtigkeit deswegen unterstützen, weil sie den Grund für ihre Misere in einer Ausbeutung durch den Westen sehen und die aus dem Westen gekommene Demokratie immer häufiger mit Unrecht und sozialer Ungerechtigkeit assoziieren.

Diese Zensur betrifft auch die einschlägigen westlichen Prognosen zu jetziger Faschisierung Polens: als ihr wichtigster Faktor wird kaum das erwähnt, was vor Jahrzehnten Hannah Arendt zu Zusammenhängen zwischen Totalitarismus und Armut (der Arbeitslosen und der Unterbezahlten) untersuchte. Und stellen wir uns vor, was jetzt in Polen passieren würde, wenn der polnische Überschuss an Arbeitskräften in der Suche nach Arbeit nicht mehr in den Westen emigrieren könnte: wieder - eine Alternative zwischen Barbarei und Sozialismus! Und wieder - viel Material für sehr ernste Analysen, die sehr am Platze wären!

Stattdessen hört man seit Jahren, auch in Deutschland, wie hoch das polnische Bruttoprodukt sei und – im Allgemeinen - wie gut es den Polen jetzt nach der antikommunistischen Wende wirtschaftlich gehe. Und man glaubt sogar daran, was übrigens nicht verwundert. Denn auch wenn jemand dieses Land besucht, entsteht ein positives Bild: Es freuen den Besucher neue Autobahnen, zahlreiche schöne Häuser, unzählige Autos, gut gekleidete junge Menschen. Bei einem solchen positiven Eindruck muss man sich früher oder später fragen: Woher kommt soviel Zuneigung für eine dem Faschismus nahestehende Partei und Ideologie, und das sogar bei einem Drittel der Bevölkerung? Eine zufriedene Gesellschaft neige ja nicht zum Faschismus, zum Ausländerhass, zum Krieg oder Militarismus, der viele Polen in diesem Moment so sehr begeistert!

Auch in Polen selbst verdeckt und vertuscht die aggressive pro-kapitalistische Propaganda vieles an Tatsachen. Aus nächster Nähe ist es hier trotzdem viel leichter festzustellen, wie die Lage wirklich ist, und bezüglich des Wohlstands und der Armut sind diese Tatsachen ungefähr so.

Es gibt in Polen ziemlich viele Leute, die unbeschreiblich reich geworden sind, manche - durch Ausplünderung der früheren staatlichen Industrie. Einem Drittel der Gesellschaft geht es wirklich sehr gut, ein anderes Drittel kann sich über Wasser halten. Der Rest lebt in Armut, manchmal in Elend. Dazu gehören Rentner, Arbeitsunfähige, Obdachlose, Arbeitslose, Kranke aber auch die arbeitenden neuen Armen, darunter auch - paradoxerweise - welche, die formell den Status von Unternehmern genießen. Wie zu den alten kapitalistischen Zeiten vor dem Zweiten Weltkrieg gibt es in Polen wieder Kinder und alte Leute, die hungern oder dramatisch unterernährt sind. Ehemalige Lehrerinnen und Lehrer, die in einer Mülltonne nach Essbarem suchen, kann man problemlos wieder beobachten! Nur, dass die Mülltonnen immer öfter verschlossen werden.

Und eine Sozialhilfe? Die gibt es praktisch nicht. Eine Arbeitslosenunterstützung erhält man nur für eine kurze Zeit, und danach – nichts. “Es gibt ja Sauerampfer an jedem Bahndamm!”, meinte einer der polnischen Politiker. Nicht selten muss sich ein Rentner entscheiden, ob er Lebensmittel oder Medikamente kauft, für beides genügt seine Rente nicht. Suizid aus solchen Gründen ist für viele alte Leute die beste Lösung. Auch bei jüngeren Menschen ist die Suizidrate aus ökonomischen Gründen wesentlich höher als in Westeuropa. Viele jüngere Menschen haben glücklicherweise die Möglichkeit auszuwandern und viele, wie Sie wissen, nutzen sie immer noch. Seit dem Jahre 2004 sind aus Polen drei Millionen Menschen ausgewandert. Einige weitere Millionen bereiten sich darauf vor.

Ein Grund zur Emigration oder Verzweiflung ist auch das polnische Gesundheitswesen. Das monate- oder jahrelange Warten auf ärztliche Untersuchungen durch einen Spezialisten, ein ähnlich langes Warten auf die notwendige Operation im Krankenhaus, und dann, wenn es endlich soweit ist, ein kaputtes altes Krankenbett in einem Krankenhaus-Korridor, schlechte Laune des Personals, eine alte und veraltete medizinische Apparatur, die während der Operation kaputt geht, all das sorgt bei den ärmeren oder ganz armen Polen für Wut. Es sorgt aber auch für ein Gefühl der Erniedrigung. Und das ist das Schlüsselwort – die Erniedrigung.

Erniedrigt fühlt man sich nicht nur wegen Armut und nicht nur durch ein drohendes Elend oder fehlende medizinische Hilfe. Dieses bittere Gefühl empfinden Millionen von Polen auch durch Vergleiche. Durch die wachsenden riesengroßen Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen reichen und armen Menschen, aber auch zwischen reichen und armen Ländern.

Die neuliberale Konkurrenzpropaganda lehrt dabei, dass man für seine Misserfolge oder Erfolge, die nicht groß genug sind, nur selber schuld sei. Einer, der verliert, sei sehr wahrscheinlich ein geborener Verlierer oder einfach - ein Dummkopf. In Bezug auf sich selbst glaubt man daran selbstverständlich nicht gerne, da es schmerzt und suizidal machen kann. Noch schlimmer wird es, wenn man eines Tages erfährt, dass das eigene Land etwas in dieser Art geworden ist: dass es wirtschaftlich und politisch zu nichts mehr geworden ist als zu einem Steinhaufen. Seit mindestens einem Jahr macht diese Diagnose eine bittere Karriere in Polen.

Das Selbstbewusstsein der meisten Polen ist - auch aus anderen Gründen - eine eiternde offene Wunde, die sehr schmerzt. Sie tut es noch deutlicher und furchtbarer, als die deutschen Seelenwunden, die durch den Versailler Vertrag und die damalige Armut entstanden waren. Sie ist uralt und jetzt scheint sie wieder so weh zu tun, wie sie zur Zeit der polnischen nationalen Aufstände gegen Russland im 19. Jahrhundert weh getan hat. Außer der liberalen Doktrin von Gewinnern und Verlierern stärkt dieses seelische Leiden die massive Propaganda von den christlich-patriotischen Werten, die angeblich durch den ausländischen und inländischen Feind unterdrückt werden. Hinzu kommt, dass rationale Erklärungen wirtschaftlicher, sozialer und politischer Prozesse von der Mehrheit der polnischen Bevölkerung nicht begriffen werden.

Es sorgt für dieses Nicht-Begreifen auch die Verbannung marxistischer Inhalte und der politischen Ökonomie aus dem Schulwesen sowie aus den großen Medien und Bibliotheken. Von Marx’ Werken und marxistischer Literatur wurden, wie zur Hitlers Zeiten in Deutschland, alle polnischen Bibliotheken gereinigt. Übrigens war das schon lange vor der jetzigen „guten Änderung“ passiert.

Diese immer wieder neu aufgerissene Wunde - des alten polnischen Minderwertigkeitskomplexes und des Gefühls, auch jetzt erniedrigt und schlecht behandelt zu werden - wird in vieler Hinsicht politisch verwertet. Sie wird hauptsächlich zugunsten des Klerus, aber auch der aufeinander folgenden Regierungen verwertet, indem sie zur Verbreitung autoritärer und xenophober, immer öfter auch faschistischer Ideen genutzt wird.

Die katholische Kirche und ihre Medien schüren in diesem autoritären und xenophoben Geiste vielerlei Ängste. Zum Beispiel und in erster Linie - vor Abtreibungen, Befruchtungen in Vitro, Homosexualität sowie vor Folgen einer internationalen Verschwörung der Homosexuellen. Ein mit diesen Ideen angesteckter „wahrer Pole“ entwickelt dazu, vor allem im Internet, praktische Ergänzungen. Er fordert gegen all diese sittlichen „Verbrechen” ein hartes Strafgesetz zu entwickeln und anzuwenden, und er ist mit Schimpfworten nicht sparsam. Mancher polnische Intellektuelle untermauert seine Forderungen mit den Aussagen des „polnischen Papstes“, am liebsten mit denen, die in seiner Enzyklika „Veritatis splendor“ – „der Glanz der Wahrheit“ - gemacht wurden.

Im politischen Bereich außerhalb der Sittensphäre steht es mit der polnischen Xenophobie ziemlich ähnlich: sowohl die Kirche, als auch die beiden stärksten Parteien mit ihren Medien, das heißt sowohl Recht und Gerechtigkeit als auch die Bürgerplattform führen ununterbrochen seit der sogenannten Wende einen hassvollen ideologischen Kampf gegen den Kommunismus. Und, was dabei als normal gilt, sie tun das öfters in einem Atemzug gegen das heutige Russland und gegen Westeuropa. Es kommt auch nicht selten vor, dass ein polnischer Intellektueller das jetzige Russland und Putin fast automatisch mit Kommunismus assoziiert oder ganz ernsthaft behauptet, das heutige Deutschland und ganz Westeuropa seien kommunistisch.

Eine Spezialität der aktuell regierenden Partei ist es, besonders in der letzten Zeit, den Hass nicht nur gegen Russland, sondern auch gegen Deutsche und Deutschland zu schüren. Was dabei ganz neu ist: Es wird Deutschland vorgeworfen, die polnische Kultur und Wirtschaft auch mit Hilfe der Demokratie kaputt zu machen. Auf diese Art und Weise führt die weltweite Enttäuschung über die bürgerliche Demokratie zur Ablehnung jeder Demokratie. Wir brauchen Demokratien überhaupt nicht - es genügen uns ja Mut, starker Wille und die Entscheidungskraft eines uns führenden starken Mannes. An so was zu glauben, ist süß. Und es heilt die Seele.

Die Emotionen spielen verrückt. Angst, Demütigung, Hass, Hoffnung auf ein besseres Leben mit Liebe zu dem ersehnten Retter bilden eine Art Psychose. Sie erinnert an Paranoia und zugleich an die Wirkung einer auf Gehorsam ausgerichteten Hypnose. Sie ist jedenfalls eine induzierte wahnhafte Störung, eine ansteckende psychische Krankheit, die unmündig macht. Angesteckt wird man übrigens nicht nur durch eine besonders nahe stehende Person, sondern auch von den nicht direkt bekannten Menschen, wenn man sie schätzt und mag und wenn man von ihnen in den wichtigsten Sachen des Lebens Unterstützung erwartet. Charismatische Politiker gehören selbstverständlich dazu, aber auch ähnlich denkende Journalisten, sogar ähnlich denkende, zufällig getroffene Leute, wenn sie von einer großen Hoffnung derselben Art getragen werden. Das alles lässt sich jetzt ziemlich leicht in Polen verfolgen. Jedenfalls, wie die Geschichte lehrt, kann das eine Basis für eine dauerhafte Diktatur werden, bald oder in einer weiteren Zukunft.

Warum aber auch „in einer weiteren Zukunft”? Denn auch die weitere Zukunft wird durch die aktuellen Lebenseinstellungen der polnischen Jugend und der Kinder beeinflusst.

Wie erwähnt, denkt ein Großteil der jüngeren Menschen in Polen an Emigration, gemäß manchen Untersuchungen erklären es sogar 80 % der Einwohner Polens. Es geht hier aber nicht um die wahren Zahlen solcher Bekundungen, wichtig ist, dass es in diesem Land neben verschiedener Art ideologisch engagierten Personen auch eine Unmenge von jungen Menschen gibt, die sich für die Art des politischen Systems wegen der geplanten Auswanderung kaum mehr interessieren. Auf die jungen und alten Menschen, die in Elend leben und nicht genug innere Kraft haben, um an Emigration zu denken, kann man ebenso nicht rechnen: auch sie werden sich für eine Demokratie oder einen Sozialstaat nicht einsetzen.

Und die Übrigen, die nicht arm sind und höchstwahrscheinlich in Polen bleiben werden? Sie sind ideologisch und ethisch nicht einheitlich. Was sie miteinander verbindet, ist aber die Tatsache, dass die meisten von ihnen unter einer weltanschaulichen Unterentwicklung leiden: Es wurde ihnen nicht beigebracht, wie viel an Leid, Krankheit, frühen Tod und Verbrechen die großen Einkommensunterschiede mit sich bringen, sie haben auch nicht gelernt, die kulturellen Unterschiede positiv zu sehen, eine hierarchische Gesellschaftsstruktur zu verabscheuen und sich vor ihr zu fürchten. Diejenigen, die den hierarchischen Geist des polnischen Katholizismus verinnerlicht haben, sind meistens, wie die ganze katholische Kirche in Polen, sozial blind, auch wenn manche von ihnen an karitativen Aktionen teilnehmen: sich für Lösungen sozialer Probleme und für ein egalitäres Gesellschaftssystem einzusetzen, das kann dieser Art ethische Tradition nicht animieren.

Sozial blind, antidemokratisch und anti-egalitär sind auch Zöglinge neoliberaler Medien. Sie sind unter der heutigen polnischen Jugend katastrophal zahlreich. Streng katholisch und zugleich neoliberal zu denken, ist in Polen auch keine Seltenheit.

Ethische Barbarei dieser beiden Erziehungsmodelle, die mit allgemeiner Ignoranz in Bezug auf gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten sowie mit Marginalisierung der wirtschaftlich Schwächeren und ihrer Demütigung gekoppelt sind, sind für diesen Misstand gemeinsam verantwortlich. Es tut besonders weh, zu lesen, dass die polnische Jugend bei Ausländerhass und Rassismus an der Spitze in Europa steht. Man liest auch von Forschungsergebnissen, denen gemäß sie in vieler Hinsicht bei Herzlosigkeit an erster Stelle liegt.

Dabei scheint es kein Zufall zu sein, dass diese dem Faschismus nahestehenden ethisch-politischen Haltungen, anti-egalitär, autoritär und xenophob, nicht vor der großen Wende, sondern erst in dem letzten Vierteljahrhundert eine so üppige Entwicklung verzeichnen. Erst nach dem Zerfall der polnischen Industrie und nach der Einführung eines wilden Kapitalismus im Jahre 1989, mit Arbeitslosigkeit, aber fast ohne soziale Absicherung, was trotzdem als Demokratie gelten sollte und gepriesen wurde, begann diese Faschisierung der polnischen Geister. Es wird behauptet, schuld daran seien als ursprünglicher Grund die westlichen Wirtschaftsberater Polens als auch die globalen Institutionen wie die Weltbank, die Welthandelsorganisation und so weiter. Was uns aber hier interessiert, sind die polnischen Institutionen, Organisationen, Parteien, Politiker.

Denn es ist wichtig zu betonen, dass die Mehrheit der politisch engagierten Menschen, die jetzt auf den polnischen Straßen die Demokratie in ihrem Komitee verteidigen wollen, selber als Anhänger oder Helfer der neoliberal-klerikalen Bürgerpartei das heutige unmenschliche Polen mitgebaut haben. Aus diesem Grunde ist es nicht ungerecht, wenn diese „Demokraten” als Mitgründer der jetzigen faschistoiden Wende betrachtet werden. Und was, wenn in Zukunft eine solche zutiefst antisoziale Partei wieder zur Macht kommt? Auch ihre eigene Politik wird nolens volens einen Nährboden für künftige Diktaturen schaffen. Die rechtsradikalen Lebenseinstellungen, die gegenwärtig perfektioniert werden, werden die Lage noch verschärfen.

Ähnliche Gedanken weckt das Komitee zur Verteidigung der Demokratie (KOD) als eine moralische Institution und politische Bewegung. Kurz gesagt: das Komitee ist nützlich und außerdem bildet es einen augenscheinlichen Beweis dafür, dass es in Polen auch zahlreiche politisch kritische oder ziemlich kritische Menschen gibt; ein Vergleich zu solchen jetzt auch faschisierenden Ländern wie Ungarn, die Slowakei oder Kroatien, wo so etwas nicht entstehen kann, bekräftigt diese positive Diagnose; andererseits verrät dieses Komitee eine beunruhigende programmatische Enge: Es kämpft gegen das rechte Vorhaben, ein neues, weniger demokratisches Grundgesetz ins Leben zu rufen, ebenso wie gegen Verletzungen der bisherigen Verfassung und anderer Gesetze. Es kämpft auch gegen die Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit, auch gegen Nationalismus und Militarisierung des Landes. Seine Aktivitäten haben sich zu einer Protestbewegung entwickelt, ohne den Versuch, eine echtere, mehr soziale Demokratie für Polen zu entwerfen. Sollten die Anhänger oder Aktivisten dieser Bewegung irgendwann an der Machtausübung beteiligt sein, ist es fast sicher, dass sie die bisherige antisoziale Demokratie rekonstruieren. Mit dem zusätzlichen Effekt, dass sie durch diese ihre programmatische Enge wieder einen Nährboden für Autoritarismus oder Faschismus schaffen werden.

Die einzige Alternative wäre, dass ein soziales Polen gebaut wird, wirtschaftlich, politisch, ethisch und durch Aufklärung in Sachen soziale Gerechtigkeit. Das Problem ist aber, dass Polen dieses alleine nicht schafft. Einen Sozialstaat hier zu errichten, wird dabei nur unter der Bedingung möglich sein, dass es den Westeuropäern wieder gelingen sollte, das internationale Kapital, wie es nach dem Zweitem Weltkrieg der Fall war, zu weitgehenden Kompromissen zu zwingen. Notwendig ist auch, dass die Westeuropäer sich mehr als jetzt um die Interessen der Mitteleuropäer kümmern. Und zwar in einem permanenten energischen und schlauen Kampf gegen die katastrophal wachsende Kluft zwischen Arm und Reich.

Es scheint im Übrigen, dass in unserer Zeit nur die Deutschen unter den Bewohnern Europas moralisch und intellektuell in der Lage sind, eine derartig schwierige Auseinandersetzung zu konzipieren und einzuleiten. In jedem Falle aber muss man damit rechnen, dass auch bei dem besten Willen katastrophale Entwicklungen in Europa nicht bald zu Ende gehen werden. Auch Klugheit sehr zahlreicher Menschen und ihr guter Wille werden nicht unbedingt zur positiven Gegenwirkung ausreichen.

Wenn wir aber um ein menschlicheres Europa trotz allem weiter ringen und weiter auch an Polen strategisch denken, halten wir uns vor Augen den zum Teil schon erwähnten positiven Punkt in diesem Lande: dass in den vier ärmeren katholisch geprägten Ländern Ostmitteleuropas, die in diesem Moment faschistoide Tendenzen verraten, und zwar Polen, Ungarn, Slowakei und Kroatien, nur Polen stärkere pro-demokratische Antikörper gegen Rechtsradikalismus in sich trägt. Gemeint werden damit zahlreiche zur reellen Demokratie neigende polnische Internetportale und einige Wochenzeitschriften, vor allem aber - eine ziemliche Handvoll von hochintelligenten Journalisten, Philosophen und Wissenschaftlern, die in diesem Geiste schreiben und versuchen, politisch zu handeln. Es scheint übrigens, ein sehr wichtiges Postulat zu sein, dass diese Leute schnellstens direkte Beziehungen zu ihren ethisch-ideologischen Geschwistern im Ausland knüpfen. Vor allem – in Deutschland und Russland, aber auch in China. Dies ist aber schon ein gesondertes, sehr wichtiges, Thema.

 

Jerzy Drewnowski Wolfenbüttel in Deutschland - Jedlnia Letnisko in Polen, im April 2015

 

Streszczenie: Aus wirtschaftlichen Gründen sowie infolge einer antidemokratischen Erziehung der Bevölkerung durch die Partei Recht und Gerechtigkeit tendiert Polen zu einer Art Faschismus

 

Schlüsselworte: Jerzy Drewnowski, Braune Sprenkel an der grünen Insel, Erziehung zum Faschismus, faschistoide Tendenzen in Polen, Faschisierung Polens, Recht und Gerechtigkeit (PiS) Polen, Bürgerplattform (PO) Polen, das Komitee zur Verteidigung der Demokratie (KOD) Polen, Verfassungsgericht Polen, Faschismus als Paranoia, Psychose und Hypnose, Pressefreiheit in Polen, politische Internetkontrolle in Polen, politische Telefonkontrolle in Polen, Xenophobie in Polen, Homophobie in Polen.

Quelle: Jerzy Drewnowski der Vefasser

Słowa kluczowe: Jerzy Drewnowski, Braune Sprenkel an der grünen Insel, faszyzacja Polski, wychowanie do faszyzmu, faszystowskie tendencje w Polsce, Prawo i Sprawiedliwość, Platforma Obywatelska, Komitet Obrony Demokrecji, Trybubnał Konstytucyjny, faszyzm jako paranoja, psychoza i hipnoza, wolność prasy w Polsce, polityczna kontrola internetu, polityczna kontrola telefonów, ksenofobia w Polsce, homofobia w Polsce.

 

Źródło: Jerzy Drewnowski autor